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"Mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis". Behandlungszentrum für Folteropfer führt aus dem Trauma zu lebensspendender Kraft

. Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern, (22.11.2015)

Zusammenfassung

"Mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis" Behandlungszentrum für Folteropfer führt aus dem Trauma zu lebensspendender Kraft Er sollte bei seinen Nöten und Ängsten passende Psalmverse entdecken. Und sie beten, wenn die Angst ihn heimsuchte. Diese Aufgabe stellte Regina Kurth einem ihrer Patienten, einem gläubigen Christen aus Nigeria. Die Angst vor der Gewalt, die er in Afrika erfahren hatte, ließ ihn so sehr verzweifeln, dass ihn kaum etwas anderes als sein Glaube am Leben hielt. In Ulm traf er auf Regina Kurth. Die promovierte und habilitierte Psychologin leitet seit 2009 das dortige "Behandlungszentrum für Folteropfer". Bereits 1995 verwirklichten zwei engagierte Mitglieder der Menschenrechtsorganisation amnesty international diese Idee. Den organisatorischen Leiter des Behandlungszentrums, Manfred Makowitzki, zeichnete die Bundesregierung im Oktober mit der Integrationsmedaille aus. Gemeinsam entdeckte Kurth mit dem gläubigen Nigerianer etwa die Worte aus dem Psalm 88 nach der revidierten Lutherübersetzung: "Herr, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. Lass mein Gebet vor dich kommen; neige deine Ohren zu meinem Geschrei. Denn meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist nahe dem Tode." Im siebten Vers heißt es weiter: "Du machst, dass meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir halten, mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis." Religiöse Texte und ihre Bilder haben eine beachtliche heilende Kraft. Wie kommt aber jemand, dem solche staatlich sanktionierte Gewalt angetan wurde, von den Bildern des 88. Psalms etwa zum 23. Psalm? Auch die Exodus-Geschichte trägt durch lange Durststrecken. "Eine wichtige (und gelegentlich auch die einzige) Ressource für viele unserer Patienten ist ihr Glaube", weiß Kurth. Das Ulmer Behandlungszentrum hat zum 20-jährigen Bestehen seiner Arbeit einen Sammelband unter dem Titel "Verteidigung der Menschenwürde" herausgegeben. In dem Aufsatz "Tausendundeine Nacht" beschreibt die Psychologin den Alltag der Behandlungen. Die lebensspende Kraft religiöser Texte gewinnt auch für andere Frömmigkeitsformen Gestalt. Sie gilt auch für den Koran. Einen muslimischen Patienten bat Regina Kurth aus dem Koran seine Lieblingssuren herauszusuchen, die ihn ebenfalls in verschiedenen Nöten tragen konnten. Auch aus interreligiösen Erfahrungen lässt sich Tröstung finden. So entdeckte ein Moslem die Kraft der christlichen Christophorus-Legende, die er vorher nicht kannte. Der Mann trug das Kind über den Fluss, das ihm zu schwer wurde. Da sagte das Kind zu ihm: "Du kannst mich ruhig loslassen, es wird mir nichts passieren." "Was er daraus gelernt habe? Wenn man Schwierigkeiten hat geduldig zu sein und die Hoffnung nicht zu verlieren." Die Therapeutin wies ihn darauf hin, dass die Geschichte ja auch einen zweiten Höhepunkt aufweist: "Dass dem Menschen nur das zugemutet wird, was er auch tragen und mit dem er letztlich umgehen könnte." Es gilt den manchmal reißenden Fluss zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu überwinden. Die traumatische Vergangenheit wird gerne von der Gegenwart getrennt - gerade bei den massiven Verlusterfahrung wie der Gesundheit, des Wohlbefindens, der Sicherheit, des Mordes an engsten Freunden oder Familienangehörigen - ist der einzig sinnvolle Weg für Kurth intensive Trauerarbeit. Da gilt es, diese Erfahrungswelten wieder miteinander zu verbinden - ohne dass je nach Temperament des Flüchtlings entweder Depressionen oder Aggressionen Raum gewinnen können. Besonders Flüchtlinge, die Verfolgung und Gewalt erfahren haben, leiden arg unter den Ungewissheiten des langen Asylverfahrens. Nach den Erfahrungen des Ulmer Behandlungszentrums für Folteropfer sind etwa 40 Prozent der Flüchtlinge in Europa traumatisiert. Die Fremdbestimmung und oft für sie unerklärlichen Entscheidungen im Asylverfahren können die traumatischen Erfahrungen durchaus wieder reaktualisieren. Krankmachende Angst kann sich wie ein Krebs auf alle Lebensbereiche ausbreiten, so Kurth. Gut hundert Klienten behandelt das Zentrum gleichzeitig. Eine Therapie hat mindestens 25 Sitzungen. Viele Patienten brauchen rund 30 Sitzungen, andere mehr, einige auch weniger. Deshalb gibt es eine begrenzte Anzahl von Behandlungsplätzen - so wie bei jeder anderen Praxis oder Klinik. Die Warteliste wird aktuell immer länger. Regina Kurth und ihre Kollegen kümmern sich nicht nur um Flüchtlinge aus der Region Ulm, sondern auch aus den württembergischen Landkreisen bis Reutlingen, Sigmaringen und Richtung Bodensee. Die Patienten kommen ebenso aus Neu-Ulm und weiteren Grenzkreisen auf bayerischer Seite, wie sie im Gespräch mit dem Sonntagsblatt erklärt. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Traumatisierter seine Geschichte erzählen kann. Zunächst sei es oft wichtig, die Angst als eine wichtige Lebensbegleiterin nicht nur zu akzeptieren, sondern gar schätzen zu lernen. Bei einer überaus ängstlichen Kurdin war Regina Kurth mit allen möglichen Mitteln und Methoden gescheitert. "Da fragte ich sie eines Tages, wie sie es mit der Gastfreundschaft halte?" - auch ungebetenen oder unsympathischen Gästen gegenüber. "Das macht keinen Unterschied, wir sind jedermann gegenüber gastfreundlich, laden jeden ein und bewirten sie oder ihn." "Gut, dann können Sie die Weisheit ihres Volkes für sich nutzen. Verhalten Sie sich Ihrer Angst gegenüber wie einer Fremden, die um Ihre Gastfreundschaft ersucht." Natürlich gilt es manchmal trotz Dolmetschern, verschiedene kulturelle Klippen zu umschiffen. Auch die Wahrnehmung des Körpers und intensive Sinneswahrnehmung helfen Kräfte gegen die Angst zu mobilisieren. Dann können auch traumatisierte Menschen ganz im Hier und Jetzt präsent sein - ohne die Ängste aus der Vergangenheit und Grübeleien über die Zukunft. Äuf dem Weg des Trauerns müssen oft auch lieb gewonnene Vorstellungen vom Leben losgelassen werden", so Regina Kurth. "Wie die Ansicht, nur auf eine bestimmte Art und Weise oder nur mit bestimmten Mitteln leben oder glücklich werden zu können. Aber Loslassen setzt Vertrauen voraus und das muss oft erst gefördert werden, um den Sprung ins Neue und Unbekannte zu wagen." Dann verliert auch die Finsternis ihre beherrschende Stellung im Leben eines Menschen, der unter Gewalterfahrungen fast zerbrach. Er kann andere Vertraute auf seinem Lebensweg gewinnen. Urs M. Fiechtner, Stefan Drößler u.a. (Hg.): Verteidigung der Menschenwürde. Die Arbeit des Behandlungszent­rums für Folteropfer Ulm, Edition Kettenbruch September 2015, 264 Seiten, 18,80 Euro; ISBN 978-3-7375-4347-7. Zu 30 Prozent finanziert sich das als gemeinnützig anerkannte Behandlungszentrum aus Spenden oder Zuwendungen aus Stiftungen. Spenden über die Sparkasse Ulm, IBAN: DE55 6305 0000 0000 0638 72, BIC: SOLADES1ULM

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